Migration gehört seit Anbeginn zur Menschheit. Ohne Migration kein Austausch, keine Sprache – und letztlich keine Gesellschaft. Migration ist menschliche Praxis und damit menschliche Kultur. Trotzdem wird sie nicht nur im deutschsprachigen Raum in weniger realitätsgetreuen und dafür umso apokalyptischeren Tönen verhandelt. Der zwischenzeitlich stärkere Fokus auf die Willkommenskultur 2015 ist zurückgedrängt worden. Migration wird als Bedrohung, als gefährliches Zerfallssymptom dargestellt.
Deswegen haben wir uns als Berlin Polyphon zusammengefunden. Als Vertreter*innen dutzender migrantischer Berliner Initiativen, Vereine und Dachverbände möchten wir unsere Erfahrungen und Expertise zu diesem Diskurs beisteuern. Weil wir als migrantische Organisationen und damit Betroffene aus dem Alltag wissen, wie sich solche Bedrohungsnarrative auswirken.
Sie sind nicht nur Erzählungen, sie transportieren Ideen, die Handeln bestimmen. Diese Ideen werden in Gesetze gegossen. Wir wollen denjenigen Sichtbarkeit und Gehör verschaffen, die die Konsequenzen solcher Diskussionen am Ende ausbaden müssen. Schärfere Sanktionen, mehr Abschiebungen, mehr Kriminalisierung, Abschottung und Ausgrenzung. Die Verhinderung und Einschränkung von Teilhabe an der Gesellschaft durch rigide Gesetze sind eine Gefährdung für den sozialen Zusammenhalt wie auch ein friedliches Zusammenleben. Die politischen Kräfte, die in eine Welt zurück wollen, die es ohnehin nur in ihrer Vorstellung gegeben hat, verkennen die Realität. Wir leben schon längst in einer Migrationsgesellschaft. Es gibt keine Gesellschaft ohne Migration.
Über die Frage nach der Migration hinaus besetzen wir eine Leerstelle, die in aufgeregten Abwehrdebatten oft vernachlässigt wird: Die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Unsere Vision basiert auf der Überzeugung und dem Wissen um die Veränderbarkeit der Verhältnisse: Die Welt ist geworden, wie sie jetzt ist. Es ist möglich, sie zu verändern. Das passiert sowieso ständig, seit tausenden von Jahren. Und natürlich sind daran alle beteiligt, auch schon immer diejenigen, die nicht an dem Ort geboren wurden, an dem sie momentan leben.
Wir wollen zu einer Gesellschaft auf Basis der Menschenrechte, die allen Menschen Chancengerechtigkeit bietet, die alle teilhaben lässt. Wir wollen mit Unterschieden produktiv umgehen, Heterogenität aushalten und gemeinsam an einer Vision für die Zukunft arbeiten, statt uns in rückwärtsgewandtem Kulturpessimismus zu verlieren. Gleichzeitig wollen wir auch demokratische Errungenschaften verteidigen, die in den letzten Jahren zunehmend unter Beschuss geraten sind. Nicht, indem wir den Status-quo verteidigen, sondern durch einen Aufbruch zu demokratischen Verhältnissen für alle!
Dafür haben wir uns zusammengetan. Denn wir wissen ebenfalls aus dem Alltag in der Migrationsgesellschaft, dass wir als Menschen in allen Feldern besser vorankommen, wenn wir einander zur Seite stehen. Wenn wir Ressourcen teilen und entwickeln. Wenn wir einander unterstützen und Probleme gemeinsam lösen. Wenn wir die Rechte eines jeden Menschen stärken und vor Angriffen schützen. Wir stehen gemeinsam gegen rassistische oder antisemitische, sexistische oder andere Arten von Menschenverachtung.
Bei all den großen Debatten um Migration sind immer noch sehr stark diejenigen unterrepräsentiert, die das Thema aus eigener Anschauung kennen. Als migrantische Organisationen, Initiativen, Vereine und Dachverbände werden wir unseren Teil dazu beitragen, dass unsere Perspektive vermittelt und wahrgenommen wird. Was uns eint, ist nicht “Identität”, sondern die gesellschaftliche Vision eines guten Lebens für alle. Wir wollen auch streiten und Streit aushalten. Wir wollen sprechen. Und wir fangen jetzt an.